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Nicht da? Hanna und ich nach dem ersten Tag der Osterferien nicht mehr glücklich

gewesen w?ren. Wir waren nie glücklicher als in jenen Aprilwochen. So verstellt dieser

erste Streit und überhaupt unser Streiten war – alles, was unser Ritual des Vorlesens, 22 / 89

Duschens, Liebens und Beieinanderliegens ?ffnete, tat uns gut. Au?erdem hatte sie sich

mit ihrem Vorwurf, ich h?tte sie nicht kennen wollen, festgelegt. Wenn ich mich mit ihr

zeigen wollte, konnte sie keine prinzipiellen Einw?nde erheben. ?Also wolltest du doch

nicht mit mir gesehen werden? – das mochte sie sich nicht sagen lassen müssen. So fuhren

wir in der Woche nach Ostern mit dem Fahrrad weg, vier Tage Wimpfen, Amorbach und

Miltenberg.

Ich wei? nicht mehr, was ich meinen Eltern gesagt habe. Da? ich die Fahrt mit meinem

Freund Matthias mache? Mit einer Gruppe? Da? ich einen ehemaligen Klassenkameraden

besuche? Vermutlich war meine Mutter besorgt, wie immer, und fand mein Vater, wie

immer, sie solle sich keine Sorgen machen. Hatte ich nicht gerade die Klasse geschafft,

was mir niemand zugetraut hatte?

W?hrend ich krank war, hatte ich mein Taschengeld nicht ausgegeben. Aber das würde

nicht reichen, wenn ich auch für Hanna zahlen wollte. Also bot ich meine

Briefmarkensammlung im Briefmarkengesch?ft bei der Heiliggeistkirche zum Verkauf. Es

war das einzige Gesch?ft, das an der Tür den Ankauf von Sammlungen anzeigte. Der

Verk?ufer sah meine Alben durch und bot mir sechzig Mark. Ich wies ihn auf mein

Prunkstück hin, eine geradegeschnittene ?gyptische Marke mit einer Pyramide, die im

Katalog mit vierhundert Mark verzeichnet war. Er zuckte mit den Schultern. Wenn ich so

an meiner Sammlung hinge, sollte ich sie vielleicht besser behalten. Dürfte ich sie

überhaupt verkaufen? Was sagten meine Eltern dazu? Ich versuchte zu handeln. Wenn die

Marke mit der Pyramide doch nicht wertvoll sei, würde ich sie einfach behalten. Dann

k?nne er mir nur noch drei?ig Mark geben. Also sei die Marke mit der Pyramide doch

wertvoll? Am Ende bekam ich siebzig Mark. Ich fühlte mich betrogen, aber es war mir

gleichgültig.

Nicht nur ich hatte Reisefieber. Zu meinem Erstaunen war auch Hanna schon Tage vor

der Reise unruhig. Sie überlegte hin und her, was sie mitnehmen sollte, und packte die

Satteltaschen und den Rucksack, die ich für sie besorgt hatte, um und um. Als ich ihr auf

der Karte die Route zeigen wollte, die ich mir überlegt hatte, wollte sie nichts h?ren und

nichts sehen. ?Ich bin jetzt zu aufgeregt. Du machst das schon richtig, Jungchen.?

Wir brachen am Ostermontag auf. Die Sonne schien, und sie schien vier Tage lang.

Morgens war es frisch, und tags wurde es warm, nicht zu warm fürs Fahrradfahren, aber

warm genug zum Picknicken. Die W?lder waren Teppiche in Grün, mit gelbgrünen,

hellgrünen, flaschengrünen, blau- und schwarzgrünen Tupfern, Flecken und Fl?chen. In

der Rheinebene blühten schon die ersten Obstb?ume. Im Odenwald gingen gerade die

Forsythien auf.

Oft konnten wir nebeneinander fahren. Dann zeigten wir uns, was wir sahen: die Burg,

den Angler, das Schiff auf dem Flu?, das Zelt, die Familie im G?nsemarsch am Ufer, den

amerikanischen Stra?enkreuzer mit offenem Verdeck. Wenn wir eine andere Richtung und 23 / 89

Stra?e nahmen, mu?te ich vorausfahren; sie wollte sich um Richtungen und Stra?en nicht

kümmern. Sonst fuhr, wenn der Verkehr zu dicht war, mal sie hinter mir, mal ich hinter ihr.

Sie hatte ein Fahrrad mit verdeckten Speichen und verdecktem Tretwerk und Zahnrad und

trug ein blaues Kleid, dessen weiter Rock im Fahrtwind flatterte. Ich brauchte eine Weile,

bis ich nicht mehr fürchtete, der Rock werde in die Speichen oder ins Zahnrad geraten und

sie werde stürzen. Danach sah ich sie gerne vor mir herfahren.

Wie hatte ich mich auf die N?chte gefreut. Ich hatte mir vorgestellt, da? wir uns lieben,

einschlafen, aufwachen, uns wieder lieben, wieder einschlafen, wieder aufwachen und so

fort, Nacht für Nacht. Aber nur in der ersten Nacht bin ich noch mal aufgewacht. Sie lag

mit dem Rücken zu mir, ich beugte mich über sie und kü?te sie, und sie drehte sich auf

den Rücken, nahm mich in sich auf und hielt mich in ihren Armen. ?Mein Jungchen, mein

Jungchen.? Dann schlief ich auf ihr ein. Die anderen N?chte schliefen wir durch, müde

vom Fahren, von Sonne und Wind. Wir liebten uns am Morgen.

54 Hanna überlie? mir nicht nur die Wahl der Richtungen und Stra?en. Ich suchte die

Gasth?fe aus, in denen wir über Nacht blieben, trug uns als Mutter und Sohn in die

Meldezettel ein, die sie nur noch unterschrieb, und w?hlte auf der Speisekarte nicht nur für

mich, sondern auch für sie das Essen aus. ?Ich mag’s, mich mal um nichts zu kümmern.?

Den einzigen Streit hatten wir in Amorbach. Ich war früh aufgewacht, hatte mich leise

angezogen und aus dem Zimmer gestohlen. Ich wollte das Frühstück hochbringen und

wollte auch schauen, ob ich schon ein offenes Blumengesch?ft finde und eine Rose für

Hanna kriege. Ich hatte ihr einen Zettel auf den Nachttisch gelegt. ?Guten Morgen! Hole

Frühstück, bin gleich wieder zurück? – oder so ?hnlich. Als ich wiederkam, stand sie im

Zimmer, halb angezogen, zitternd vor Wut, wei? im Gesicht.

?Wie kannst du einfach so gehen!?

Ich setzte das Tablett mit Frühstück und Rose ab und wollte sie in die Arme nehmen.

?Hanna…?

?Fa? mich nicht an.? Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie um

ihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine Lippe

platzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh. Ich war furchtbar erschrocken. Sie holte

noch mal aus.

Aber sie schlug nicht noch mal. Sie lie? den Arm sinken und den Gürtel fallen und

weinte. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Ihr Gesicht verlor alle Form. Aufgerissene

Augen, aufgerissener Mund, die Lider nach den ersten Tr?nen verquollen, rote Flecken auf

Wange und Hals. Aus ihrem Mund kamen kr?chzende, kehlige Laute, ?hnlichdem tonlosen

Schrei, wenn wir uns liebten. Sie stand da und sah mich durch ihre Tr?nen an.

Ich h?tte sie in meine Arme nehmen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich wu?te nicht, was

tun. Bei uns zu Hause weinte man nicht so. Man schlug nicht, nicht mit der Hand und erst

recht nicht mit einem Lederriemen. Man redete. Aber was sollte ich sagen?24 / 89

Sie machte zwei Schritte zu mir, warf sich an meine Brust, schlug mit den F?usten auf

mich ein, klammerte sich an mich. Jetzt konnte ich sie halten. Ihre Schultern zuckten, sie

schlug mit der Stirn an meine Brust. Dann seufzte sie tief und kuschelte sich in meine

Arme.

?Frühstücken wir?? Sie l?ste sich von mir. ?Mein Gott, Jungchen, wie siehst du aus!?

Sie holte ein nasses Handtuch und s?uberte meinen Mund und mein Kinn. ?Und das Hemd

ist voller Blut.? Sie zog mir das Hemd aus, dann die Hose und dann zog sie sich aus, und

wir liebten uns.

?Was war eigentlich los? Warum warst du so wütend?? Wir lagen beieinander, so

befriedigt und zufrieden, da? ich dachte, jetzt werde sich alles kl?ren.

?Was war los, was war los – wie dumm du immer fragst. Du kannst nicht einfach so

gehen.?

?Aber ich habe dir doch einen Zettel…?

?Zettel??

Ich setzte mich. Da, wo ich den Zettel auf den Nachttisch gelegt hatte, lag er nicht mehr.

Ich stand auf, suchte neben und unter dem Nachttisch, unter dem Bett, im Bett. Ich fand

ihn nicht. ?Ich versteh das nicht. Ich hatte dir einen Zettel geschrieben, da?

ich Frühstück

hole und gleich zurück bin.?

?Hast du? Ich seh keinen Zettel.?

?Du glaubst mir nicht??

?Ich will dir gerne glauben. Aber ich seh keinen Zettel.?

Wir stritten nicht mehr. War ein Windsto? gekommen, hatte den Zettel genommen und

irgend- und nirgendwo hingetragen? War alles ein Mi?verst?ndnis gewesen, ihre Wut,

meine geplatzte Lippe, ihr wundes Gesicht, meine Hilflosigkeit?

H?tte ich weitersuchen sollen, nach dem Zettel, nach der Ursache von Hannas Wut,

nach der Ursache meiner Hilflosigkeit? ?Lies noch was vor, Jungchen!? Sie schmiegte

sich an mich, und ich nahm Eichendorffs ?Taugenichts? und fuhr fort, wo ich beim

letztenmal geendet hatte. Der ?Taugenichts? las sich leicht vor, leichter als ?Emilia

Galotti? und ?Kabale und Liebe?. Hanna folgte wieder mit gespannter Anteilnahme. Sie

mochte die eingestreuten Gedichte. Sie mochte die Verkleidungen, Verwechslungen,

Verwicklungen und Nachstellungen, in die sich der Held in Italien verstrickt. Zugleich

nahm sie ihm übel, da? er ein Taugenichts ist, nichts leistet, nichts kann und auch nichts

k?nnen will. Sie war hin und her gerissen und konnte noch Stunden, nachdem ich mit dem

Vorlesen aufgeh?rt hatte, mit Fragen kommen. ?Zolleinnehmer – war das kein guter

Beruf??

Wieder ist der Bericht über unseren Streit so ausführlich geraten, da? ich auch von

unserem Glück berichten will. Der Streit hat unser Verh?ltnis zueinander inniger gemacht.

Ich hatte sie weinen sehen, Hanna, die auch weinte, war mir n?her als Hanna, die nur stark 25 / 89

war. Sie begann, eine sanfte Seite zu zeigen, die ich noch nicht gekannt hatte. Sie hat

meine geplatzte Lippe, bis sie heilte, immer wieder betrachtet und zart berührt.

Wir liebten uns anders. Lange hatte ich mich ganz ihrer Führung, ihrem Besitzergreifen

überlassen. Dann hatte auch ich von ihr Besitz zu nehmen gelernt. Auf und seit unserer

Fahrt haben wir nicht mehr nur Besitz voneinander ergriffen.

Ich habe ein Gedicht, das ich damals geschrieben habe. Als Gedicht ist es nichts wert.

Ich habe damals für Rilke und für Benn geschw?rmt, und ich erkenne, da? ich beiden

zugleich nacheifern wollte. Aber ich erkenne auch wieder, wie nah wir einander damals

waren. Hier ist das Gedicht:

Wenn wir uns ?ffnen

du dich mir und ich dir mich,

wenn wir versinken

in mich du und ich in dich,

wenn wir vergehen

du mir in und dir in ich.

Dann bin ich ich

und bist du du.

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