Am n?chsten Tag war sie weg. Ich kam zur üblichen Stunde und klingelte. Ich sah durch
die Tür, alles sah aus wie sonst, und ich h?rte die Uhr ticken.
Wieder setzte ich mich auf die Treppenstufen. In den ersten Monaten hatte ich immer
gewu?t, auf welchen Strecken sie eingesetzt war, auch wenn ich sie nie mehr zu begleiten
oder auch nur abzuholen versucht hatte. Irgendwann hatte ich nicht mehr danach gefragt,
mich nicht mehr dafür interessiert. Es fiel mir erst jetzt auf.
Von der Telephonzelle am Wilhelmsplatz rief ich die Stra?en- und Bergbahngesellschaft
an, wurde ein paarmal weiterverbunden und erfuhr, da? Hanna Schmitz nicht zur Arbeit
gekommen war. Ich ging zurück in die Bahnhofstra?e, fragte in der Schreinerei im Hof 35 / 89
nach dem Eigentümer des Hauses und bekam einen Namen und eine Adresse in Kirchheim.
Ich fuhr dorthin.
?Frau Schmitz? Die ist heute morgen ausgezogen.?
?Und ihre M?bel??
?Das sind nicht ihre M?bel.?
?Seit wann hat sie in der Wohnung gewohnt??
?Was geht das Sie an?? Die Frau, die sich mit mir durch ein Fenster in der Tür
unterhalten hatte, machte das Fenster zu.
Im Verwaltungsgeb?ude der Stra?en- und Bergbahn-gesellschaft fragte ich mich zur
Personalabteilung durch. Der Zust?ndige war freundlich und besorgt.
?Sie hat heute morgen angerufen, rechtzeitig, da? wir die Vertretung organisieren
konnten, und gesagt, da? sie nicht mehr kommt. Gar nicht mehr.? Er schüttelte den Kopf.
?Vor vierzehn Tagen sa? sie hier, auf Ihrem Stuhl, und ich habe ihr angeboten, da? wir sie
zur Fahrerin ausbilden, und sie schmei?t alles hin.?
Erst Tage sp?ter habe ich daran gedacht, zum Einwohnermeldeamt zu gehen. Sie hatte
sich nach Hamburg abgemeldet, ohne Angabe einer Anschrift.
Tagelang war mir schlecht. Ich achtete darauf, da? Eltern und Geschwister nichts
merkten. Bei Tisch redete ich ein bi?chen mit, a? ein bi?chen mit und schaffte es, wenn
ich mich übergeben mu?te, bis zum Klo. Ich ging in die Schule und ins Schwimmbad.
Dort verbrachte ich die Nachmittage an einer abgelegenen Stelle, wo mich niemand suchte.
Mein K?rper sehnte sich nach Hanna. Aber schlimmer als die k?rperliche Sehnsucht war
das Gefühl der Schuld. Warum war ich, als sie da stand, nicht sofort aufgesprungen und zu
ihr gelaufen! In der einen kleinen Situation bündelte sich für mich die Halbherzigkeit der
letzten Monate, aus der heraus ich sie verleugnet, verraten hatte. Zur Strafe dafür war sie
gegangen.
Manchmal versuchte ich, mir einzureden, da? nicht sie es war, die ich gesehen hatte.
Wie konnte ich sicher sein, da? sie es war, wo ich doch das Gesicht nicht richtig er?
kannt hatte? H?tte ich, wenn sie es gewesen war, ihr Gesicht nicht erkennen müssen?
Konnte ich also nicht sicher sein, da? sie es nicht gewesen sein konnte?
Aber ich wu?te, da? sie es war. Sie stand und sah – und es war zu sp?t.